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Der Rixdorfer Galgen

Im alten Rixdorf, dem heutigen Berliner Stadtbezirk Neukölln, ereignete sich um 1874 die folgende Anekdote in deren Quintessenz sich wieder einmal zeigt, daß Mißstände meist erst dann behoben werden, wenn der Verursacher derselben selbst davon betroffen ist.

Es war die Zeit unzähliger kleiner privater Pferdeomnibuslinien. Eine davon gehörte dem Gastwirt Barta, der seine neue Geschäftsidee aus dem Biertischgeschimpfe der Arbeiter entnahm. Sie beschwerten sich oftmals über die Unzuverlässigkeit und mangelnde Kapazität der bestehenden Omnibuslinie. Der Bus fuhr ab, wenn er voll war und so hatte der eine oder andere oft das Nachsehen.

Doch auch Bartas Omnibuslinie war bald ausgelastet. In dieser Zeit wurde der ‘Verbinder’ gebaut, die heutige Ringbahn. Die Bahn, die damals noch von Dampflokomotiven gezogen wurde, verband die Berliner Endbahnhöfe der Fernbahnen miteinander. Am Potsdamer Bahnhof gestartet, fuhr sie einen großen Bogen um Berlin herum bis hin nach Charlottenburg und zurück. Der Bahnhof Rixdorf lag zu jener Zeit noch nicht auf einem aufgeschütteten Bahndamm. Die Eisenbahnlinie führte der Einfachheit halber mitten über die Bergstraße, wo sie, durch einen Holzzaun abgeschottet jeglichen Fahrzeugverkehr unterband. Alle Bauern, die auf der anderen Seite der Strecke Land besaßen und Fahrzeuge, die aus Rudow kamen, mußten einen Umweg über die Kirchstraße und über die dort befindliche Brücke nehmen. Lediglich Fußgänger konnten an der Bergstraße die Geleise überqueren und zwar über eine eigens zu diesem Zweck konstruierte Holzbrücke, von den Rixdorfern ‘Galgen’ genannt. Dieser ‘Galgen’ nun, stieß bei ihnen auf gemischte Gefühle.

Während er als ein beliebter Spiel- und Tummelplatz bei den Kindern galt, war er doch ein beschwerliches Hindernis für die Alten und bei Regen und Schnee ein gefährliches dazu. So war der ‘Galgen’ den Anwohnern bald ein Dorn im Auge. Jahrelange Interventionen bei der Obrigkeit und auch das Einschalten des ‘Gemeinnützigen Anzeigers’, um der Beseitigung dieses Schildbürgerstreiches willen, stießen jedoch auf taube Ohren.

Nun trug es sich zu, daß eines Tages der Kaiser zur Jagd nach Rudow wollte. Dessen Kutscher kannte jedoch den Umweg über die Kirchstraße nicht und so wurde der Kaiser jäh mit dem Holzzaun konfrontiert. Er wunderte sich doch sehr über diese unsinnige Einrichtung. Die Rixdorfer jedoch packten die Gelegenheit beim Schopfe und baten den Monarchen in einem Brief um Abhilfe. Und siehe da, die Eisenbahndirektion ließ den ‘Galgen’ abreißen und die Bahnstrecke auf einem Damm über die Bergstraße führen.

Spätestens Ende des 19. Jahrhunderts wird der “Rixdorfer” überall bekannt, als ein Schlager in der “Neuen Welt” von dem Parodisten Littke-Carlsen nach der Melodie von Eugen Philippi vorgetragen wird:

“Uff den Sonntag freu ick mir.
Ja, denn jeht et `raus zu ihr,
Feste mit verjnügtem Sinn,
Pferdebus nach Rixdorf hin!
Dort erwartet Rieke mir,
Ohne Rieke keen Pläsir!
In Rixdorf ist Musike,
Da tanz ick mit der Rieke,
In Rixdorf bei Berlin.”